Ginia Holdener (Galaria Fravi)
Dezember 2022
Sven Egert –
Die Erzeugung künstlicher Biotope
Sven Egert ist der Faszination der Materialität erlegen. Er kommt zwar von der Malerei her, doch setzt sich der Künstler in seiner Arbeit seit einigen Jahren fast ausschliesslich mit unterschiedlichen Werkstoffen auseinander und ist – dem Neuen gegenüber aufgeschlossen – stets auf der Suche nach weiteren Materialien, die er künstlerisch verwerten kann: «Kunststoffe müssen nicht so aussehen wie sie uns tagtäglich begegnen. Mich faszinieren deren unentdeckte Seiten, die ich in meiner Arbeit zum Leben erwecken möchte.»
Ausbildung
Egert wurde 1980 geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugend in Chur sowie in Trimmis. Das Aufwachsen in einem kreativen Umfeld und seine Begeisterung fürs Graffiti, die sich in nächtlichen Ausflügen niederschlug, ebneten wohl schon in frühen Jahren den künstlerischen Weg, den er einst beschreiten sollte. Parallel zu seinem Besuch der Kunstschule Liechtenstein in Nendeln richtete er sich 2005 im Industriegebiet Staldenhof in Luzern ein Atelier ein, das er bis heute führt. Immer wieder zog es ihn ins Ausland; Atelieraufenthalte führten ihn nach Italien oder nach Brasilien, wo er in São Paulo vier Jahre verbrachte. Rückblickend erklärt er: «Diese einzigartige Metropole hat es mir ausgesprochen leicht gemacht, mich heimisch zu fühlen. Auch waren die neuen Impulse wichtig für meine Weiterentwicklung als Künstler sowie als Mensch.»
Faszinierende Materialität
Besucht man Egert in seiner Wirkungsstätte in Luzern und beobachtet ihn bei seiner Arbeit, erweckt es den Anschein, als ob man anstelle eines Künstlerateliers ein Labor beträte: Mit seinem akribischen Experimentieren untersucht er die Materialien, indem er sie mit der gebotenen Ernsthaftigkeit auf ihre Beschaffenheit, Wandlungsfähigkeit sowie vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten hin erforscht. Gegebene Strukturen von beispielsweise Polystyrol, Polyurethan oder aber Isopor werden aufgebrochen oder gar zerstört; es wird geätzt, bestäubt, geschäumt, verrührt, ab- und wieder aufgetragen. Im Rahmen der Ausstellung «Filter Bubble» in Zürich äussert sich der Bündner zum Arbeitsprozess folgendermassen: «Mich interessiert die Veränderung bis hin zur Unkenntlichkeit vom ursprünglichen Material: Die neuen Formenwelten, die sich durch Zugabe von Chemikalien ergeben. Das Zufällige, welches nur bis zu einem gewissen Punkt steuerbar ist. Das Freilegen von Strukturzeichnungen, welche sich im Material befinden und schon fast archäologisch zum Vorschein gebracht werden wollen.»
Die Wirkungsästhetik
Der Künstler erzeugt mit seinen – mehrheitlich als Serien konzipierten – Objekten künstliche Biotope. Aus dem vielfältigen Egert’schen Kosmos sollen in der Folge einige wenige Arbeiten vorgestellt werden. Die Serie «Ohne Titel (Relief paintings)» von 2022 beispielsweise besteht aus zwölf grossformatigen planen Arbeiten, die gleichermassen Spannung und Einheitlichkeit suggerieren: eine rhythmische Komposition aus monochromen Farben und Flächen, Leichtigkeit und Schwere, Sanftheit und Vehemenz. Unter dem Titel «Terra Nullius» (2020) schuf Egert eine Reihe kreisrunder schwarzer Objekte, die trotz ihrer Grösse eine enorme Kompaktheit besitzen. Darüber hinaus vermögen sie eine ausserordentliche Intensität auszustrahlen, da sie buchstäblich aus der Tiefe heraus zu brodeln scheinen. Andere Arbeiten wiederum laden infolge ihres haptischen Charakters zum Berühren und Abtasten ein. Steht man vor Sven Egerts Objekten, kommt man nicht umhin, die eigene Rolle als Rezipientin neu zu hinterfragen: Von der passiven Betrachterin werde ich zur aktiven Beobachterin. Durch das Erkunden der unterschiedlichen Oberflächenstrukturen stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Darunterliegenden, dem Verborgenen der Objekte: Mal sind sie von poröser, mal von fast durchscheinender Beschaffenheit; mitunter wirken sie undurchdringlich, in anderen Fällen strecken sie sich gar physisch den Rezipierenden entgegen. Dies deckt sich mit der Intention Egerts, den Betrachtenden mit seinen künstlich geschaffenen Biotopen keine klaren Interpretationsansätze, sondern gedankliche Anstösse zu liefern, die sowohl die Vorstellungskraft beflügeln als auch das Rätselhafte und wohl auch Unbewusste anzusprechen vermögen. Der Künstler löst seine Materialien von ihrer eigentlichen Funktionalität als triviale Kunststoffe und erhebt sie zu eigenständigen Kunstobjekten, die manchmal gar von einer gewissen Erhabenheit sind. Seine Arbeiten besitzen eine ungemeine ästhetische Wirkung: Sie bezaubern; manchmal ziehen sie die Rezipierenden an und manchmal stossen sie sie ab – doch immer machen sie neugierig. Dabei kokettieren sie nie noch sind sie gefällig, da ihnen Authentizität innewohnt.